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Nora Gomringer – Bamberg (Oberfranken)

Auszeichnung: 2017 – Bolzhausen

Laudatio

Von der Villa Concordia im Herzen Bambergs bis zum Brückenbaron in Bolzhausen sind es mit dem Auto rund 100 Kilometer und 1 ½ Stunden Fahrt, wenn es denn die A 3 zulässt. Ein Katzensprung für eine Weltbürgerin, die das Jahr über leichten Fußes zwischen Kyoto und Reykjavik und zwischen Peking und Nowosibirsk im Namen der Literatur unterwegs ist. In der Welt zu Hause, in Franken daheim – das ist Nora Gomringer, die oberfränkische Gewürfelte des Jahres 2017!

Die Weltoffenheit liegt bei Nora Gomringer sicher schon in den Genen. Das Literarische auch! Der Vater Eugen Gomringer gilt als einer der wichtigsten Vertreter der deutschsprachigen Nachkriegslyrik. Von ihm bekam sie außer sieben Halbbrüdern, dem zweiten Vornamen Eugenie, der Neigung zur Poesie und der Lust am Reisen auch das südamerikanische Temperament der bolivianischen Großmutter und die Kaufmannstugenden des Züricher Großvaters mit. Auch die Mutter Nortrud, selbst Germanistin, hat sie literarisch stark beeinflusst, in Kindertagen durch das Vorlesen von Gedichten und Märchen in der Badewanne, später als kritische Lektorin. Zugegeben, aus der Tochter zweier Literaten muss nicht zwangsläufig wiederum eine Literatin werden. Zwischenzeitlich wäre Nora tatsächlich beinahe dem väterlichen Rat gefolgt, sich einen „richtigen“ Beruf zu suchen. Die Medizin fand sie ganz ansprechend. In der Tat, von der sympathischen Frau Doktor Gomringer im weißen Arztkittel und mit Stethoskop um den Hals würde man sich gerne kurieren lassen. Aber schließlich brach sich bei der Studien- und Berufswahl doch die Macht der Sprache Bahn. Die Eltern nahmen es gelassen und wir sind heute froh darüber.

Bamberg ist ihre Stadt, seit sie 16 war. Dort besuchte sie das Gymnasium und studierte später Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte. Von dort flog sie immer wieder aus und kehrte doch zurück, auch wenn die kulturellen Zentren dieser Erde lockten. Dort lebt und arbeitet sie auch heute.

Nach Oberfranken ist das in Neunkirchen an der Saar geborene Mädchen allerdings schon viel früher importiert worden, im zarten Alter von zwei Jahren, als die Familie in Wurlitz bei Rehau ansässig wurde. Mehr Kühe als Menschen gäbe es dort, wie sie selber sagt. Die Leute seien etwas verhalten, man rede nicht drauflos, es brauche Zeit, miteinander warm zu werden. Das klingt nicht gerade nach der Keimzelle für eine große Literaturkarriere. Trotzdem ist Wurlitz bis heute ihre Herzensgegend geblieben. Sie hat es genossen, als fröhliches Landkind aufzuwachsen, und zieht aus der Kindheit auf dem Dorf viel Stoff für ihre Gedichte. Die Eltern legten Wert auf eine gründliche Bildung, auf Humanismus, Sprachen und natürlich Literatur. Kein schlechtes Rüstzeug für den späteren Lebensweg!

Wahrscheinlich liegt in der Wurlitzer Zeit überhaupt der Schlüssel für ihre Lebensmelodie, die eine zutiefst fränkische ist: Erdung und Verbundenheit einerseits, Heimat, Zuhause und Heimkehr als wichtige Themen; die Sehnsucht nach der Buntheit und Vielfalt der weiten Welt andererseits, die ihrem Schaffen genauso immanent ist. Nora Gomringer ist keine Heimatdichterin, aber sie ist eine Dichterin aus der Heimat.

Durch Nora Gomringers Leben ziehen sich einige rote Fäden. Einer davon ist der, dass sie immer die Jüngste ist. Das fing schon bei der Geburt an als jüngstes von den acht Kindern ihres Vaters. Und setzte sich später in schöner Regelmäßigkeit fort: jüngste Trägerin des Jacob-Grimm-Preises für Deutsche Sprache, zweitjüngste Empfängerin der Europamedaille des Freistaats Bayern, eine der jüngsten Gewinnerinnen des renommierten Ingeborg-Bachmann-Preises für deutschsprachige Literatur und schließlich jüngste Leiterin einer bayerischen Kulturinstitution.

In der Poetry-Slam Szene, in der sie literarisch groß geworden ist, gilt sie dagegen – mit Verlaub – als alte Dame. Poetry Slam, das nur kurz zur Erklärung, ist ein moderner Dichterwettstreit, bei dem meist junge Poeten gegeneinander antreten und das Publikum entscheidet, wer gewinnt. Ein raffiniertes Spiel mit der Sprache, ohne ablenkende Requisiten und sonstige Einlagen, der vorgetragene Text allein soll seine Wirkung entfalten. Anfang des neuen Jahrtausends hatte Nora Gomringer Kontakte zu Slammern in München geknüpft und Gefallen an dieser neuen Form des Dichtens gefunden. Bald begann sie, solche Poetry Slams auch in Bamberg zu veranstalten – und erntete riesigen Zuspruch. Sie hat diesen Kneipenwettbewerb der Dichtung erst in der Region etabliert und später viel für die Ausbreitung der Bewegung in ganz Deutschland getan. Heute vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendwo im Land ein Slam stattfindet. Über den Unterhaltungswert hinaus widerlegt der Erfolg der Poetry Slams das Vorurteil, junge Menschen würden sich nicht für Sprache und ihre Möglichkeiten interessieren.

Natürlich stellte sich Nora Gomringer häufig genug selbst dem Wettbewerb der Dichter. Wer je an ihrer fränkischen Wendigkeit und an ihrem Witz zweifeln möchte, der sollte sie einmal bei einem Poetry Slam oder bei der Lesung eines ihrer eigenen Gedichte persönlich erleben. Nora Gomringer ist wie für die Bühne gemacht. Für ihren Vortrag bedient sie sich der gesamten Klaviatur stimmlicher und mimischer Ausdrucksformen; sie wispert und flötet, haucht und kichert, stampft und brüllt ihre Texte mit Power und Emotion, immer gepaart mit einer gehörigen Prise Selbstironie. Gomringer live ist Theater mit Worten, eine ausdrucksstarke Inszenierung und ein eindrückliches Erlebnis. 2005 brachte sie es im Teamwettbewerb sogar zur deutschen Meisterschaft als beste deutschsprachige Performance-Poetin. Nicht von ungefähr hat ihr die Szene den Titel „Königin des Poetry Slam“ verliehen. Aber was so romantisch klingt, ist in erster Linie harte Arbeit und erfordert zudem einiges an fränkischer Beharrlichkeit. Denn auf der anderen Seite der Erfolgsmedaille liegen lange Reisen in überfüllten Zügen, kurze Nächte auf Matratzen und in stickigen Wohngemeinschaften, viel Erfahrung und wenig Geld und manche enttäuschte Hoffnung, weil es neben jedem Gewinner eines Poetry Slam auch immer eine ganze Reihe von Verlierern geben muss.

Der Szene, die sie so entscheidend mitgeprägt hat, ist sie mittlerweile fast entwachsen, zumindest was eigene Bühnendarbietungen betrifft. Außerdem verlangt ihr das zweite Leben als Kulturmanagerin inzwischen so viel ab, dass der Rest drumherum gut eingeteilt sein will. Seit April 2010 ist Nora Gomringer Herrin über das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg und damit Gastgeberin für zwölf jährlich wechselnde Künstler aus Deutschland, Europa und der ganzen Welt. Sie leben und arbeiten jeweils elf Monate als Stipendiaten des Freistaats Bayern in dem denkmalgeschützten barocken Prachtbau an der Regnitz. Wer meint, bei dieser Aufgabe gelte es der Kunst allein, der irrt. Plötzlich fand sich die kreative Künstlerin Nora Gomringer vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Wobei Kreativität sicher auch dort nicht schadet! Direktorin in der Villa Concordia, das bedeutet zuerst einmal lange, durchgetaktete Arbeitstage mit viel Papierkram am Schreibtisch, Verwaltung und Organisation, Mühlen der Bürokratie, Haushaltsbudgets, Banalitäten wie kaputte Waschmaschinen und fehlende Putzmittel, Sorgen, Probleme und viel Verantwortung, aber auch das Befassen mit den großen und kleinen Nöten der Stipendiaten und ihrer Familien – da ein Mut machender Zuspruch, dort ein klärendes Gespräch. Der Inspiration ihrer Künstler ausreichend Raum zu verschaffen, damit sie ihre Talente möglichst gut entfalten können, kostet viel Zeit und Energie. Gleichwohl gelingt es ihr, die verschiedenen Kunstrichtungen ihrer Stipendiaten wunderbar zu vernetzen und das Haus mit großartigen Ideen für vielfältige bereichernde Begegnungen mit Menschen und Institutionen zu öffnen.

Weil der gewürfelte Franke gemeinhin sehr gut in der Lage ist, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen, hat Nora Gomringer natürlich trotz der anspruchsvollen Direktorenaufgabe das Dichten nicht aufgegeben. Wäre ja noch schöner! Aber ihr Tag bräuchte einfach mehr als 24 Stunden. Sie löst das Dilemma, indem sie am Morgen zwei Stunden früher aufsteht, die sie ganz der Poesie widmet, und indem sie die vielen Reisetage des Jahres nutzt, um auf langen Wegen ihre Gedichte aus dem Kopf auf das Blatt zu bringen.

Nora Gomringer liebt es, mit der Sprache zu spielen. Sprache ist Genuss, sie macht Lust auf Sprache und auf Lyrik. „Ich schreibe über einfache Dinge in nicht immer einfacher Sprache“, so beschreibt sie selbst kurz und knapp ihre Dichtkunst. Ihre Gedichte locken den Leser zunächst mit federnder Leichtigkeit und erweisen sich doch bald als raffinierte Wortkompositionen, die Konzentration und intensive Auseinandersetzung verlangen. Mit scheinbar banalen Sätzen vermittelt sie Botschaften voller Tiefgang. So verbirgt sich z.B. hinter dem unscheinbaren Titel „Und es war ein Tag“ ein bewegendes, berührendes, herausforderndes Gedicht über den Holocaust und die Deportationen nach Auschwitz. Bisweilen nutzt sie den Humor zur Erschütterung des Lesers. Unvermittelt wechselt sie zwischen Komik und Ernst, zwischen Liebe und Schmerz, zwischen Glück und Unglück. Der Gedichtband „Morbus“, der sich in einem bunten Bogen von 25 Stücken diversen Krankheiten von Adipositas bis Syphilis widmet, schockiert mit ehrlichen Worten, bricht Tabus und begeistert zugleich mit mitreißendem Humor. Seit 2005 stehen Texte von ihr in bayerischen Schulbüchern, da hatte sie selbst das Abitur noch nicht lange hinter sich. Schon in jungen Jahren hat sie ein erstaunliches künstlerisches Gesamtwerk geschaffen.

„Ein Wesen, gemacht aus Texten“, wie Nora Gomringer sich selbst bezeichnet, und doch ganz von dieser Erde, keinesfalls abgehoben oder verkopft. Eine lebensfrohe Frau, die sich im Kino gerne Horrorfilme anschaut, die Federball spielt und in ihrem Bamberger Lieblingscafé eine große Tasse Milchkaffee genießt, die mit Freunden Essen geht, sich für Jazz und Filmmusik ebenso interessiert wie für die Muppet Show und das Selber Eishockey, und die in den sozialen Netzwerken andere an ihrem mal mehr, mal weniger aufregenden Leben teilhaben lässt.

Noch so vieles wäre von Nora Gomringer zu erzählen: vom 11. September 2001, den sie in New York hautnah miterlebte, und der sie nicht nur geprägt, sondern lange Zeit richtig mitgenommen hat; vom Musikprojekt PENG PENG PENG zusammen mit Schlagzeuger Philipp Scholz, bei dem sich Jazz und Poesie so einzigartig miteinander verbinden; oder von ihrem multimedialen Ausstellungsprojekt „Aufsmaulschaun“, einem Auftrag des Fichtelgebirgsmuseums Wunsiedel, bei dem sie zusammen mit der Bayreuther Text- und Objektkünstlerin Petra Feigl anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 einen überaus humorvollen Blick auf Luthers Wortschöpfungen und seinen Einfluss auf die deutsche Sprache wirft. Und noch viel mehr wäre zu erzählen, denn die wendige, witzige und widersprüchliche Fränkin Nora Gomringer gönnt sich offenbar keine kreative Atempause, so dass eine einzige Laudatio gar nicht genügt, das alles zu würdigen.

Liebe Frau Gomringer,
jetzt sind Sie also wieder die Jüngste, nämlich die jüngste Trägerin des Frankenwürfels. Aber fränkisch zu sein, ist ja keine Frage des Alters, sondern des gewürfelten Wesens. Vielgestaltig, schelmisch und von tausend Ideen erfüllt – das hätte auch dem Dichterkollegen Hans Max von Aufsess, dem geistigen Vater des Frankenwürfels, gut gefallen. Deshalb darf ich Sie jetzt mit der Übergabe der Urkunde und des Würfels als würdige Preisträgerin in den Kreis der gewürfelten Franken aufnehmen. Herzlichen Glückwunsch!

HEIDRUN PIWERNETZ
Regierungspräsidentin von Oberfranken