Auszeichnung: 2023 – Thurnau
Laudatio
Mit der Preisträgerin aus Oberfranken bleiben wir beim Thema Kunst und Kultur. Kulturfeldwebel, Mrs. 100.000 Volt, Frau Europas: Sissy Thammer wurde schon mit einer ganzen Reihe außergewöhnlicher Titel geadelt. Nicht zu vergessen die Ehrungen mit dem Bundesverdienstkreuz, dem Bayerischen Verdienstorden und der Europamedaille. Eine bedeutende Auszeichnung aber fehlte noch – das wollen wir heute ändern!
Im Sommer ist Bayreuth nicht nur Treffpunkt der Wagnerianer, sondern zugleich begehrter Lern- und Begegnungsort des kreativen Künstlernachwuchses aus aller Herren Länder. Schon seit 1950 finden sich hier jedes Jahr bis zu 500 junge Leute aus der ganzen Welt zu gemeinsamen Kulturprojekten ein. Die Bayreuther merken es spätestens beim Gang durch die Fußgängerzone, wo es an allen Ecken und Enden streicht, zupft, bläst und singt, dass die jungen Künstlerinnen und Künstler wieder in der Stadt sind.
37 Jahre, so lange schon schwingt Sissy Thammer als Intendantin das Zepter über das Festival junger Künstler Bayreuth. Da kann man gut und gerne von einer Ära sprechen. Sie hat das Festival geprägt, weiterentwickelt und gemäß Richard Wagners Leitspruch „Kinder, schafft Neues“ immer wieder neu erfunden. Von nichts, selbst nicht von einer weltweiten Pandemie, als anderswo alles stillstand, hat sie sich aufhalten lassen, junge Menschen von allen fünf Kontinenten im Rahmen des Künstlerfestivals zusammenzubringen, oft auch solche aus miteinander verfeindeten Ländern.
Mit ihrem Laudator verbindet Sissy Thammer nicht nur die Leidenschaft für Kunst und Kultur, sondern auch der Brückenschlag von der Oberpfalz nach Oberfranken. Die fränkischen Eigenschaften wurden ihr in die Oberpfälzer Wiege gelegt, denn gewürfelt musste man sein, um sich im traditionellen dörflichen Umfeld von Winklarn nahe der tschechischen Grenze und mit zwei Brüdern an der Seite als selbstbewusstes Mädchen und durchsetzungsstarke junge Frau zu behaupten. Und das ist ihr glänzend gelungen mit dem Motto, nach dem sie bis heute lebt: „Das Glück kommt zu denen, die es sich nehmen.“
Die Guts- und Brauereibesitzertochter musste von Anfang an tüchtig in der Landwirtschaft und im Haushalt mitanpacken. Später hat sie sogar mit dem Laster Bier ausgefahren. Bei der Feuerwehr wurde sie zur Oberlöschmeisterin befördert und hat als erste Frau in Bayern den Kommandantenlehrgang besucht. Da lernte sie, Verantwortung zu übernehmen, Prioritäten zu setzen und das Chaos zu überblicken – allesamt Fertigkeiten, die sich in ihrem späteren Beruf als sehr nützlich erweisen sollten.
Musik spielte bei den Thammers auch eine wichtige Rolle. Die Großmutter sang Opern und Operetten und von der Mutter erhielt Sissy die musikalische Grundbildung nach Orffscher Schule. Und als Zehnjährige saß sie erstmals voller Begeisterung auf den harten Holzstühlen des Bayreuther Festspielhauses bei den Meistersingern von Nürnberg.
Dass Bayreuth rund 20 Jahre später zum Fixpunkt ihres Lebens werden sollte, hat sie damals sicher nicht geahnt. Es folgten erst einmal abwechslungsreiche Lehr- und Wanderjahre. Eine Ausbildung zur Buchhändlerin schloss sie ab und das Jurastudium bis zur ersten Staatsprüfung. Doch schon bei einem Studienaufenthalt in Rom wurde ihr klar, dass ihr das Dolce Vita und die Kunstgeschichte näherlagen als die Paragraphenreiterei.
Als sie dann nach einem Umweg über eine Münchner Unternehmensberatung den Ruf nach Bayreuth erhielt, da musste sie nicht lange überlegen, um Ja zu sagen. Mit dem Management der internationalen Friedensarbeit des Festivals und der Förderung des künstlerischen Nachwuchses aus aller Welt hat sie nicht nur ihren Beruf gefunden, sondern auch ihre Berufung. Dazu eine neue Heimat und die Liebe fürs Leben. Also alles richtiggemacht!
Bestimmt standen Hans Max von Aufsess Menschen wie Sissy Thammer vor Augen, als ihm mit seinem Essay „Der Franke ist ein Gewürfelter“ die nach wie vor geniale Beschreibung des eigentlich Unbeschreiblichen gelang. Jedenfalls hat sie die gewürfelten Eigenschaften, das Wendige, das Witzige und das Widersprüchliche, oft genug bewiesen, wenn sie das Festival junger Künstler Bayreuth durch mitunter raue See führte.
Wendig ist sie als Gallionsfigur und als Cheforganisatorin des Künstlerfestivals, als omnipräsentes Mädchen für alles, die im scheinbaren Chaos den Überblick und die großen und kleinen Fäden in der Hand behält. Wendig ist sie auch als geschickt auftretende Geldeintreiberin, die mit einnehmender Begeisterung – einnehmend durchaus wörtlich gemeint – die Geldtöpfe aufschließt, ohne die ein Event dieser Größenordnung nun einmal nicht funktionieren kann.
Das Festival führt sie mit Disziplin und Strenge und gleichzeitig mit Humor und Gewitztheit. Eine kleine Episode, von ihr selbst so erzählt, als Beispiel: Die Festivalteilnehmer aus den damaligen Ostblockstaaten wurden oft von argwöhnischen Aufpassern der geheimen Staatspolizei begleitet. Man erkannte sie daran, dass sie bei den Proben die Partitur verkehrt herum hielten. Sissy Thammer, um gute Einfälle nie verlegen, verschaffte den an kurzer Leine gehaltenen jungen Leuten durch ein cleveres Ablenkungsprogramm für ihre Bewacher trotzdem ein kleines Stück Freiheit: mit viel hochprozentigem Wodka in heiterer Gesellschaft der Festivalchefin. Wer könnte dieser Versuchung schon widerstehen?
Bleibt noch das Widersprüchliche an Sissy Thammer: Wenn es um das Wohl und Wehe ihres Festivals geht, hat sie klare Standpunkte, da polarisiert sie auch gelegentlich, und ist trotzdem beweglich genug, sich den Anforderungen des Augenblicks und den Herausforderungen der Zukunft anzupassen. Als Chefin ist sie geliebt und gefürchtet zugleich, einfühlsam und dominant, wie es die Situation gerade erfordert. Die Bodenständigkeit der Bauerntochter verbindet sie mit Internationalität und mit der Lust an der Inszenierung, erkennbar zum Beispiel an ihrem Faible für freche und frische Hüte in allen Variationen und einer ausgesprochenen Gabe für Benimm und Etikette, die sie auch von ihrem Team einfordert.
Das Festival junger Künstler ohne seine „Festival-Mum“ Sissy Thammer, das kann sich eigentlich niemand vorstellen. Und doch hat sie in diesem Sommer ihren zeitnahen Intendantenruhestand angekündigt und will wunderbare Festspielaufführungen, Konzerte und Vernissagen in Zukunft nur noch als Gast ohne Aufgaben und ohne Zeitdruck genießen.
Dass sie sich künftig vollends auf die Hollywoodschaukel in ihrem großen Kräuter- und Duftgarten zurückzieht, um tagein tagaus Zucchini und Kürbisse zu züchten, glaubt aber keiner. Ganz vom Festival wegkommen, das sagt sie selbst, wird sie wohl niemals, aber das Scheinwerferlicht der ersten Reihe gehört demnächst den Anderen.
Liebe Sissy Thammer,
bevor die Suppe kalt und der Gänsebraten trocken wird, komme ich jetzt zum Ende, auch wenn noch viel zu erzählen wäre.
„Sich wenden, sich drehen, im Leben bestehen, so ist der gewürfelte Franke zu sehen.“ Dieser Satz auf dem Würfel, den Sie gleich in Händen halten werden, bringt das Gesagte in aller Kürze auf den Punkt und deshalb sind Sie heute hier. Sissy Thammer aus dem Oberpfälzer Wald und jetzt eine gewürfelte Fränkin! Herzlichen Glückwunsch!
FLORIAN LUDERSCHMID
Regierungspräsident von Oberfranken